Vielfalt inklusiv

Digitale Wanderausstellung

Einleitung

Auf dieser Seite finden Sie die digitalisierten Version der Wanderausstellung "Flucht, Migration und Behinderung - Eindrücke und Erfahrungen zum Leben in Deutschland". Die Ausstellung ist im Frühjahr und Sommer 2022 entstanden und war seit Herbst 2022 auf Tour. Nach dem Besuch von 11 Städten im ganzen Bundesgebiet wird die Tour ab 2025 nicht weitergehen. Für die digitalisierte Version wurden einige Textpassagen leicht angepasst und an wenigen Stellen ergänzt.

In der Übersicht finden Sie alle Themenbereiche der Ausstellung. Mit einem Klick auf das jeweilige Thema gelangen Sie direkt zu der passenden Stelle in der Ausstellung. Die folgenden Icons zeigen Ihnen an, welche Funktion in dem jeweiligen Themenbereich vorhanden sind.

Das Impressum der Ausstellung finden Sie hier.

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Veröffentlichungen

Video

Externe Webseite

Einleitung zur Wanderausstellung

Vorwort

Menschen mit Behinderung und Fluchterfahrung.
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Liebe Besucherinnen und Besucher,

hier kommen Menschen zu Wort, die aus ihren Herkunftsländern fliehen mussten. Menschen, die mit einer Behinderung ganz besonders große Hürden überwinden mussten und viel riskierten, um Schutz in Deutschland zu finden.

Es geht in der Ausstellung darum, wie Familien mit Fluchtgeschichte und ihre Angehörigen mit einer Behinderung ihr Leben in unserem Land ganz persönlich meistern. Die Familien erzählen von ihrem erfolgreichen, manchmal sehr steinigen Weg zur Teilhabe. Sie berichten, wer ihnen geholfen und Brücken gebaut hat. Sie machen Mut und teilen ihre Erfahrungen, damit wir alle davon lernen.

Die Ausstellung erklärt auch, welche Unterstützung Menschen mit Flucht- oder Migrationsgeschichte und einer Behinderung zusteht. Zudem gibt es Hinweise zur Selbsthilfe und direkte Kontakte zu den wichtigsten Beratungsstellen. Damit alle ihren Weg gehen und selbstbestimmt leben können. Das ist das Ziel meiner Projektförderung für Menschen mit Fluchtgeschichte und einer Behinderung und darin wollen wir in der Bundesregierung und mit Ihnen gemeinsam noch besser vorankommen.

Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit und einen spannenden Rundgang durch die Ausstellung!

Ihre Reem Alabali-Radovan
Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. Die Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus.

Einblicke und Erfahrungen zum
Leben in Deutschland

Menschen mit Fluchterfahrung und Behinderung.
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Immer mehr Menschen migrieren. Ihre Gründe sind unterschiedlich, aber man weiß, dass sie immer häufiger zum Verlassen ihres Zuhauses gezwungen werden, beispielsweise durch einen Krieg. Unter ihnen sind ­Menschen mit Behinderung und deren Angehörige.

Die Ausstellung „Flucht, Migration, Behinderung – Einblicke und Erfahrungen zum Leben in Deutschland“ ­informiert über die Schnittstelle Flucht, Migration und Behinderung und bietet Menschen und Akteur*innen einen Ort, an dem sie ihre Geschichten erzählen und von ihren Erfahrungen berichten können. Die Ausstellung basiert auf der jahrelangen Arbeit des Vereins MINA – Leben in Vielfalt e. V. und der Projekte Ehrenamt in Vielfalt und Vielfalt inklusiv an der Schnittstelle.

Weltweit sind 117,3 Millionen Menschen auf der Flucht – Tendenz steigend.

UNHCR, Global Trends Report (2024).

Im Einleitungsteil der Ausstellung erklären wir wichtige Begriffe, informieren über die Rechtslage und weisen auf Besonderheiten an der Schnittstelle hin. In den weiteren Teilen der Ausstellung zeigen wir Ihnen Ausschnitte aus den vielfältigen Lebenswirklichkeiten von Menschen mit Flucht- und/oder Migrationserfahrung und Behinderung zu den Themen:

In jedem Themenbereich haben Sie die Möglichkeit, sich die Inhalte vorlesen zu lassen.

Die Berichte enthalten zum Teil Schilderungen von traumatischen Erlebnissen. Bitte achten Sie auf sich und lesen Sie nicht weiter, wenn Sie sich unwohl fühlen.

Etwa 15 Prozent aller Menschen weltweit haben eine Behinderung.

WHO, World Report on Disability (2011)

Die Schnittstelle Flucht, Migration und Behinderung

Mehrfachzugehörigkeit

Menschen mit Fluchterfahrung und Behinderung
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Als "Schnittstelle" bezeichnet man den Bereich, in dem es Mehrfachzugehörigkeit gibt. Im Kontext von Flucht, Migration und Behinderung bedeutet Mehrfachzugehörigkeit, dass eine Person sowohl Flucht- und/oder Migrationserfahrung als auch eine Behinderung hat. Beides - Flucht und/oder Migrationserfahrung sowie Behinderung - gehen bereits für sich genommmen mit einer Gefahr einher, Diskriminierung zu erfahren. Werden Menschen aber aufgrund verschiedener Merkmale diskriminiert, spricht man von Mehrfachdiskriminierung. In diesem Zusammenhang wird häufig der Begriff Intersektionalität benutzt. Er beschreibt das verstärkende Zusammenwirken und die Gleichzeitigkeit von Diskriminierungsformen. Jede Form von (Mehrfach-) Diskriminierung schränkt die Mitwirkung von Menschen am gesellschaftlichen Leben ein und verhindert sie.

In Kurdistan-Irak war die staatliche medizinische Versorgung schon vor dem Krieg sehr schlecht, durch den Konflikt wurde sie schlimmer. Wir wurden nicht behandelt und bekamen fast keine geeigneten Medikamte. Unsere Tochter hatte damals schlimme Krampfanfälle. Wir vermuten, dasss das mit den abgelaufenen Medikamenten zusammenhing. Ihr Zustand verschlechterte sich täglich. Die Ärzte sagten, dass sie sterbe werde, würde ihr nicht geholfen. Nichts tun zu können war sehr schlimm für uns.

Baiz B. ist mit seiner Frau und seiner Tochter aus Kurdistan-Irak geflohen. Seine Tochter hat eine Behinderung und nutzt einen Rollstuhl.

Menschen an der Schnittstelle

Logo der Ausstellung Flucht, Migration und Behinderung

Den Anteil von Menschen mit Fluchterfahrung und Behinderung an allen Geflüchteten in Deutschland schätzt u. a. Handicap International auf 10 bis 15 Prozent. Aktuell gibt es keine bundesweite Erfassung und Richtlinien für eine Identifikation von geflüchteten Menschen mit Behinderung. Damit fehlen konkrete Zahlen zu dem Personenkreis und seinen Bedarfen. Geflüchtete Menschen mit Behinderung bilden keine einheitliche Gruppe, sondern unterscheiden sich nach Herkunftsland, Alter, Geschlech und finanziellem Status sowie nach Bildungsstand, Religionszugehörigkeit und Persönlichkeit.

Behinderung als Fluchtgrund?

Nicht für alle ist die eigene Behinderung oder die eines Familienangehörigen der Grund für die Flucht. So vielfältig wie die Menschen sind auch ihre Fluchtgründe. Bei manchen wird erst im Zielland eine Behinderung festgestellt, beispielsweise eine Lernbeeinträchtigung. Andere erfahren erst auf der Flucht eine Behinderung, beispielsweise durch den Ausbruch oder die Verschlimmerung einer chronischen Erkrankung wie Diabetes und Nierenschwäche.

Wir benötigten zwei Wochen um nach Deutschland zu gelangen. Aymen haben wir getragen, weil er nicht laufen konnte. Hilfsmittel hatten wir nicht. Die Situation war dramatisch. Unser Sohn verstand nicht, was um ihn herum passierte. Der Stress was sehr belastend für ihn. Mitten auf der Flucht kollabierte Ich; plötzlich ging nichts mehr. Von da an trugen Sawsan und Menschen, die mit uns auf dem Weg waren, Aymen. Zunächst dachten wir, dass ich sehr erschöpft bin, aber mein Zustand verbesserte sich nicht. Heute weiß ich, dass das die ersten Schübe meiner Multiplen Sklerose waren.

Anas A. floh zusammen mit seiner Frau und seinen Söhnen aus dem Irak. Seit der Flucht lebt er mit Multipler Sklerose. Sein Sohn Aymen hat eine Behinderung.
Menschen mit Fluchterfahrung und Behinderung

Im Krankenhaus wurde festgestellt, dass es bei Mohammed durch die fehlerhafte und mangelnde medizinische Versorgung während der Geburt zu einem Sauerstoffmangel und einer Hirnblutung gekommen war; deswegen ist er heute beeinträchtigt. Sobald er stabil war, konnten wir ihn nach Hause holen. Zwei Tage später wurde das Krankenhaus bombardiert. Wir hatten große Angst, wir trauten uns nicht mehr raus und konnten den Arzt nicht besuchen. Unser Sohn hatte starke Schmerzen und weinte Tag und Nacht. Wir konnten ihm nicht helfen. Ihn leiden zu sehen war für uns eine Qual. Wir entschieden uns zur Flucht. In Syrien gab es für uns nichts mehr außer Hunger, Schmerzen und Tod.

Fayhaa M. und ihre Familie sind aus Syrien geflohen.

Was bedeutet Teilhabe?

Teilhabe heißt: "Ich darf mitmachen." Menschen mit Behinderung haben dann teil, wenn sie in Lebenssituationen einbezogen werden und ihnen zugestanden wird, diese Lebenssituationen selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu gestalten. Dies bedeutet beispielsweise für die Freizeitgestaltung, dass sich Menschen mit Behinderung nach eigenem Interesse einer Sportgruppe anschließen können.

Alle Menschen sind Teil der Gesellschaft, alle Menschen sind wertvoll, alle Menschen leisten einen wichtigen Beitrag für das Miteinander. Auch deswegen spielt Teilhabe an der Gesellschaft eine wichtige Rolle für Menschen mit Behinderung ob mit oder ohne Flucht- und Migrationserfahrung. Weder die Gesellschaft noch die Politik noch die Gesetzgebung darf sie ausschließen, im Gegenteil, sie sollen gleichberechtigt am Leben in der Gesellschaft mitwirken - uneingeschränkt, das heißt, ohne dass sie auf Barrieren stoßen. Die sogenannten Leistungen für die Teilhabe sollen Menschen mit Behinderung das gleichberechtigte Mitwirken am Leben in der Gesellschaft ermöglichen. Sie unterstützten beispielsweise die Bildung, das Arbeitsleben und die medizinische Rehabilitation von Menschen mit Behinderung. Teilhabeleistungen sollen aber nicht nur zu einem "Ich darf mitmachen" führen, sondern auch eine Benachteiligung aufgrund der Behinderung ausgleichen und sogar verhindern.

Gegen die Barrieren!

So vielfältig, wie die Gesellschaft ist, müssen die Angebote sein, die den Zugang zu Teilhabe ermöglichen. Sind sie es nicht, werden Menschen nicht erreicht, ausgeschlossen und an der Teilhabe gehindert. Sie werden behindert. Bezogen auf die Schnittstelle, Flucht, Migration und Behinderung ist damit beispielsweise das fehlende Beratungsangebot gemeint, dass Menschen daran hindert, Informationen zu erhalten und Unterstützung in Anspruch zu nehmen.

Menschen werden behindert, wenn ihnen notwendige Ressourcen nicht zur Verfügung gestellt werden.

Welche Angebote fördern die Teilhabe von Menschen mit Behinderung?

Menschen mit Fluchterfahrung und Behinderung

Beratungsstelle wie beispielsweise die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung - EUTB informieren Menschen über ihre Rechte und ihren Anspruch auf Leistungen und fördern dadurch die Teilhabe von Menschen. Die Beratung ist ein Angebot, das der Information und der Aufklärung dient. Sie befähigt Menschen dazu, sich für Ihre Anliegen selbst einzusetzen. Neben der Beratung gibt es weitere Angebote, die die Teilhabe von Menschen fördern, zum Beispiel Selbsthilfe - und Freizeittreffen, bei denen neben der Information der Austausch und das gemeinsame Interesse im Vordergrund stehen.

Der schwierige Weg zu Unterstützungsangeboten

Die Praxis zeigt, dass Menschen mit Flucht- und/oder Migrationserfahrung und Behinderung

  • keinen einfachen und schnellen Zugang zu Informationen erhalten

  • nicht wissen, welche Unterstützung ihnen zusteht, und

  • Angebote wie eine Beratung selten oder gar nicht in Anspruch nehmen.

Damit sind die Möglichkeiten der Teilhabe eingeschränkt. Zwar machen Migrant*innenorganisationen und Organisationen der Geflüchteten- und der Behindertenhilfe gute Angebote. Aber zwischen den Organisationen gibt es keinen systematischen Austausch und deshalb fehlt ein gemeinsames, umfassendes Wissen zur Schnittstelle Flucht, Migration und Behinderung. Dies wiederum beeinflusst Ratsuchende bei ihrer Suche nach einer Beratungsstelle. Meistens müssen sie mehrere Stellen aufsuchen, bis sie alle Informationen beisammenhaben. Das gelingt ohne professionelle Beratung nur dann, wenn sie unterstützt werden zum Beispiel durch Ehrenamtliche.

Nach der Flucht ist die komplexe Lage am Ankunftsort oftmals sehr belastend. Zunächst geht es für die geflüchteten Menschen darum, die Versorgung mit dem Notwendigsten sicherzustellen, beispielsweise mit einem Schlafplatz. Doch selbst wenn die Erstversorgung schnell erfolgt ist, bleibt das Ankommen ein Prozess, der Energie beansprucht und der nicht von heute auf morgen abgeschlossen ist. In dieser Situation benötigen besonders Menschen mit einer Behinderung zügig einen einfachen Zugang zu Informationen, damit sie die notwenidge Unterstützung schnell erhalten. Hilfreich sind mehrsprachiges Informationsmaterial und eine Beratung in den Unterkünften, durchgeführt von mehrsprachigen Personal, das um die Komplexität der Schnittstelle Flucht, Migration und Behinderung weiß. Ohne Informationen und Beratung bleibt es dem Zufall überlassen, ob Menschen mit Flucht- und/oder Migrationserfahrung und Behinderung den Weg in die Beratung und zu weiteren Angeboten finden.

Die Situation war sehr chaotisch. Durch Zufall lernten wir eine Ärztin einer Hilfsorganisation kennen. Sie setzte sich dafür ein, dass wir schnell offizielle Papiere und damit einen Krankenschein bekamen. [...] Wir waren damit bei mehreren Ärztinnen und Ärzten. Alle lehnten die Behandlung ab. Schließlich fanden wir eine Ärztin, die uns an ein Sozialpädiatrisches Zentrum, an ein SPZ, überwies. Den ersten Termin machten wir mithilfe eines Security- Mitarbeiters auf der Unterkunft.

Baiz B., Vater einer Tochter mit Behinderung.

Paragraf 1, SGB IX: Menschen mit Behinderung haben ein Recht auf Selbstbestimmung und auf umfassende Teilhabe am Leben in der Gesellschaft.

Beratung für Menschen an der Schnittstelle

Themen in der Beratung

Menschen mit Migrationserfahrung und Behinderung.
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Welcher Arzt, welche Ärztin untersucht mich und bestätigt meine Diagnose und meine Behinderung? Welche Zukunftsperspketive habe ich? Wo kann ich wohnen? In welche Schule kann mein Kind gehen? Wo kann ich Deutsch lernen? Wie kann ich Arbeit finden?

Mit diesen und anderen Fragen kommen Menschen mit Flucht- und/oder Migrationserfahrung und Behinderung in die Beratung. Aus der Kombination aus Flucht, Migration und Behinderung resultiert für die Berater*innen eine komplexe Beratungssituation. Denn hier wirken Asyl-, Sozial- und Teilhabe­recht zusammen, dies erfordert nicht nur spezifisches Wissen über Rechtsgrundlagen an der Schnittstelle Flucht, Migration und Behinderung, ­sondern auch über die Praxis. Stetige Fort- und Weiter­­bildungen sind ein Muss.

Wodurch entsteht in der Beratung ­Vertrauen?

Der Rahmen, in dem eine Beratung stattfindet, ist für Rat­suchende wichtig. Wird die Beratung in der Erst­sprache angeboten? Wie ist der Raum eingerichtet? Gibt es zu Beginn ein lockeres Gespräch, wird ein Getränk angeboten? Solche vermeintlich kleinen Dinge unterstützen den Aufbau von Vertrauen und können den Ratsuchenden dabei helfen, sich zu öffnen und Unterstützung anzunehmen.

Stellen Sie sich eine Situation vor, in der Sie in einer fremden Umgebung Unterstützung brauchen. Was benötigen Sie, um von Ihrem Problem zu berichten?

Ob die Beratung auf Türkisch oder Deutsch ist, ist für mich nicht entscheidend. Aber ich finde es gut, wenn es ein mehrsprachiges Angebot gibt. Außerdem möchte ich, dass meine Ängste ernst genommen werden. Ich will nicht von einer Stelle zur nächsten geschickt werden. Solche Beratungen habe ich schon erlebt, aber ich kann so kein Vertrauen aufbauen.

Nurhayat T., Mutter einer Tochter mit Behinderung

Wir wurden zu vielen Stellen geschickt, aber immer war die Sprache das Problem. Meine Frau und ich sprachen zu dem Zeitpunkt kein Deutsch, sondern Arabisch und Englisch. Nur durch eine zufällige Bekanntschaft in der Unterkunft, in der wir lebten, erfuhren wir von einer Beratungsstelle mit ­arabischsprachigen Mitarbeitenden.

Anas A., Vater eines Sohnes mit Behinderung

Vertrauen als Grundstein bei
MINA – Leben in Vielfalt e. V.

Mehrsprachige Beratung bei MINA - Leben in Vielfalt e.V.
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Der Verein MINA wurde 2010 als Migrant*innen-organisation gegründet, um Menschen mit Migrationserfahrung und Behinderung und deren Angehörige ­beraten und sie bei der Durchsetzung ihrer Rechte ­begleiten zu können. Da die Gründerinnen selbst Angehörige einer Person mit Behinderung sind, wussten sie um den oftmals schwierigen Zugang zu Leistungen für Menschen mit Zuwanderungsbiografie und erarbeiteten ein Angebot, mit dem sie den Betroffenen einen unkomplizierten und schnellen Zugang zu Informationen ermöglichten. Über die Beratung banden sie diese Menschen in Angebote zur Selbsthilfe und in Freizeitangebote ein. Das ist auch heute noch so.

Eindrücke von den MINA-Angeboten (2019)

In zwei Interviews berichten Sawsan Mahmood, Anas Alismaeel und Mohamed Alkasmi von ihren ­Erfahr­ungen mit der Beratung bei MINA.

Interview mit Sawsan Mahmood und Anas Alisameel (2019)

Wir machen viel aufsuchende Arbeit zum Beispiel in Moscheen, bei Kinderärztinnen und -ärzten, in Unterkünften und der Nachbarschaft. Wir informieren die Menschen dort, wo sie leben. Sie bekommen ihre Rechte und Möglichkeiten erklärt, und wir laden sie ein, zu uns in die Beratung zu kommen. In der Beratung ist es uns wichtig, dass die Ratsuchenden das Gefühl haben, willkommen zu sein. Wir bieten ihnen Tee an und unterhalten uns in lockerem Ton. Dieser Rahmen erlaubt es den Menschen, in Ruhe anzukommen. Gerade in belastenden Situationen schafft eine Beratung in der Erstsprache Vertrauen. Auf diese Weise können wir die Menschen auf vielfältige Weise unterstützen und langfristig einbinden.

Havva Sağdıc, Beraterin bei MINA – Leben in Vielfalt e. V.

Sie sind Fachkraft an der Schnittstelle Flucht, ­Migra­tion und Behinderung und möchten sich zum Thema viel­faltsensible Beratung fortbilden? Folgen Sie dem Link zur Handreichung. Sie werden weitergeleitet und können die Handreichung herunterladen oder kostenfrei bestellen.

Das EUTB-Netzwerk: unabhängig beraten, selbstbestimmt teilhaben

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Die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB) ist ein kostenloses und leicht zugängliches Beratungsangebot für Menschen mit und ohne Behinderung. Es gibt sie seit 2008. Die Beratung erfolgt unabhängig von Herkunft oder Aufenthaltsstatus.

In ganz Deutschland gibt es 500 EUTB-Stellen. Sie informieren zu allen Fragen rund um das Thema Teilhabe und Behinderung. In der Beratung erfahren die Ratsuchenden, welche Leistungen ihnen zustehen und wie sie Leistungen beantragen, zum Beispiel einen Schwerbehindertenausweis und Assistenzleistungen (Einzelfallhilfe, Schul­begleitung). Die EUTB-Stellen unterstützen bei Problemen mit Behörden, Versicherungen und Krankenkassen. Die Berater*innen beraten nach dem Prinzip „Eine für alle“, unabhängig von der Beeinträchtigung. Durch die Einbindung von Sprachmittler*innen können EUTB-Berater*innen mehrsprachige Beratung anbieten.

Bei der Beratung stehen die Bedarfe der ratsuchenden Person im Mittelpunkt. Gemeinsam mit ihnen suchen wir nach Möglichkeiten, ihre Situation zu verbessern. Die Kommunikation auf Augenhöhe, Respekt und Wertschätzung stehen dabei im Mittelpunkt.

Merve Mutluhan, seit 2019 EUTB-Beraterin.

Sie suchen Unterstützung zum Thema Teilhabe und Behinderung?

Angebote zur Selbsthilfe für Menschen an der Schnittstelle

Gruppen ermöglichen Austausch

Menschen mit Migrationserfahrung und Behinderung.
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Manche Menschen, sogar viele, leben in schwierigen Lebensumständen, beispielsweise augrund einer Sucht oder einer Krankheit. Um dies zu akzeptieren und um damit umgehen zu lernen, können sie sich einer Selbsthilfegruppe anschließen. Eine Selbsthilfegruppe ist ein freiwilliger und selbstorganisierter Zusammenschluss von Menschen, die alle ein Ziel verfolgen: mit den eigenen schwierigen Lebensumständen zurechtzukommen. Alle Mitglieder einer Selbsthilfegruppe sind gleichberechtigt. Die Gruppe ist für sie ein Raum, in dem sie sich über Erfahrungen austauschen und sich gegenseitig unterstützen können.

Selbsthilfe braucht nicht viele Worte

Durch eine Selbsthilfegruppe finden Menschen aus der Isolation heruas. Die Auseinandersetzung mit Krankheit und Behinderung oder mit der Situation nach der Flucht ist sehr emotional. Daher fühlen sich viele sicherer und wohler, wenn sie ihre Gefühle in ihrer Erstsprache beschreiben können. Im Austausch mit anderen in der Erstsprache gelingt Verständnis auch ohne viele Worte. Gerade wenn jemand das Konzept der Selbsthilfe nicht kennt oder es eher negativ wahrnimmt, ist es wichtig den Fokus auf etwas anderes zu richten.

Sie sind Fachkraft an der Schnittstelle Flucht, Migration und Behinderung und möchten mehr über vielfaltsensible Selbsthilfe erfahren. Folgen Sie dem Link zur Handreichung. Sie werden weitergeleitet und können die Handreichung herunterladen oder kostenfrei bestellen.

Sie suchen eine Selbsthilfegruppe für ein bestimmtes Thema? Auf der Internetseite der Nationalen Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS) können Sie danach suchen. NAKOS hilft Ihnen auch dabei, eine Selbsthilfegruppe zu gründen.

Unsere Angebote der Selbsthilfe heißen zum Beispiel Frühstücks- oder Vätergruppen. Der Begriff Selbsthilfe ist nicht für alle verständlich. Durch einen Namen wie Frühstücksgruppe ist sofort klar, was wir dort machen.

Yıldız Akgün, Leitung MINA – Leben in Vielfalt e. V.
Yıldız Akgün, Leitung von MINA - Leben in Vielfalt e.V.
Menschen mit Flucht- und/oder Migrationserfahrung und Behinderung.

Anfangs war ich sehr schüchtern und wenig selbstbewusst. Durch Zufall lernte ich das Selbsthilfeangebot eines Vereins kennen. Darüber traf ich andere Mütter, die ein Kind mit Behinderung haben. Mit ihnen konnte ich mich austauschen, sogar auf Türkisch, meiner Erstsprache. In den Gruppen unterstützen wir uns gegenseitig und geben Informationen untereinander weiter. Am Anfang war das neu und ungewohnt, aber ich habe schnell Vertrauen aufgebaut und fühlte mich ohne viele Worte verstanden. Durch die Gruppen lernte ich viel über meine Rechte und Möglichkeiten. Auch heute noch erfahre ich immer etwas Neues. Das Miteinander und die Freundschaften, die entstanden sind, haben mich sehr gestärkt, ich bin insgesamt viel positiver. Das fällt auch meiner Umgebung auf. Meine Freundinnen sagen, dass ich heute ganz anders auftrete als früher, viel selbstbewusster und stärker. Und das gebe ich an meine Kinder weiter.

Sevgi E., Mutter eines Sohnes mit Behinderung.

Anlässe, zu denen wir rausgehen, sind fast immer ärztliche oder amtliche Termine. Das Frühstück ist für uns wie eine Auszeit. Jede Familie dort hat verschiedene eigene Probleme. Wir treffen uns und reden miteinander. Man denkt oft, schlimmer als bei mir geht es gar nicht, aber wenn man von anderen und ihren Schwierigkeiten hört, denkt man: Gott sei Dank, es könnte viel schlimmer sein. Auch die Informationen, die wir beim Frühstück bekommen, unterstützen uns. Oft finden in dem Rahmen Informationsveranstaltungen statt. Auf diese Weise erhalten wir viele Tipps und zusätzliches Wissen und haben außerdem noch eine entspannte und lustige Zeit.

Sawsan M. floh gemeinsam mit ihrem Mann und ihren Söhnen aus dem Irak. Ihr Sohn Aymen hat eine Behinderung.

Die Zitate stammen aus dem Buch „Unsere Wege – Erfahrungsberichte geflüchteter und migrierter Familien mit Behinderung“ und der Handreichung „Flucht, Migration und Behinderung – Wege zu Teilhabe und Engagement“. Folgen Sie dem Link. Sie werden weitergeleitet und können beide Veröffentlichungen herunterladen und kostenfrei bestellen.

Freizeitangebote für Menschen an der Schnittstelle

Freizeitangebote wahrnehmen
- ein Privileg!

Inklusives Basketball
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Alles, was Spaß macht, schafft Verbindung. Und Freizeitangebote machen nicht nur Spaß, sie ermöglichen auch gesellschaftliche Teilhabe. Sie sind eine Alternative zum Alltag, hier entstehen sogar Freundschaften. Außerdem entlasten sie Angehörige und ermöglichen Menschen, ihren Interessen nachzugehen.

Menschen mit Flucht- und/oder Migrationserfahrung und Behinderung verfügen häufig erst dann über die Zeit und die Energie, an Freizeitangeboten teilzunehmen, wenn ihr Alltag stabil ist und drängende Anliegen wie medizinische Versorgung, Wohnungsbeschaffung und Beschulung geklärt sind. Oftmals gibt es für sie nur wenige leicht zugängliche Angebote, beispielsweise im Breitensport. Im Jahr 2021 organisierten nur sechs Prozent aller Vereine in Deutschland Freizeitaktivitäten für Menschen mit Behinderung: damit verringert sich für viele die Chance, nahe ihrem Wohnort ein Angebot zu finden.

Neben der leichten Zugänglichkeit spielen für Personen mit Flucht- und/oder Migrationserfahrung und Behinderung noch mehr Aspekte eine Rolle, beispielsweise Angebote für Mütter und Väter, Mädchen und Jungen, oder Angebote, die den Austausch in der Erstsprache ermöglichen.

Wonach wählen Sie Ihre Freizeitangebote aus?

"Es geht um Spaß und um den Ball!"

Väter mit ihren Kindern zusammenbringen und gemeinsam Sport treiben – was 2017 mit einer Idee begann, ist heute eine inklusive Basketballgruppe, in der Menschen mit Flucht- und/oder Migrations­er­fahrung sowie mit und ohne Behinderung ­zu­sammen Basketball spielen. Die Gruppe spielt in der Freien Basketball Liga und nahm an den Special Olympics World Games* teil.

„Wir wollten ein Sportangebot anbieten, das Väter mit ihren Kindern zusammenbringt und das für alle gut zu ­erreichen ist. Wir probierten gemeinsam Sportarten aus, bevor wir uns auf Basketball festgelegt haben.“

Das ist nun einige Jahre her. Seitdem trifft sich die Gruppe aus Menschen zwischen 15 und 50 Jahren zwei Mal die Woche zum Training. Das Training besteht aus einem gemeinsamen Aufwärmen, gefolgt von dem Training der Spielzüge und einem Spiel zum Abschluss. An dem Training können alle Spieler*innen teilnehmen – mit und ohne Assistenz.

„Wir haben uns anfangs keine Gedanken gemacht und einfach ausprobiert, was uns gefällt, und das über die Jahre ­immer weiterentwickelt. Nach einiger Zeit erfuhren wir ­zu­fällig von der Freien Basketball Liga und beschlossen, Turniere zu spielen. Seitdem sind wir jedes Jahr dabei. Über die Liga erfuhren wir außerdem von den Special Olympics World Games.“

Sie sind Fachkraft an der Schnittstelle Flucht, ­Migration und Behinderung und möchten mehr über vielfalt­sensible Freizeitangebote erfahren? Folgen Sie dem Link zur Handreichung. Sie werden weitergeleitet und können die Handreichung herunterladen oder kostenfrei bestellen.

Inklusives Basketball

Die Menschen, die ich ein oder zwei Mal in der Woche begleite wählen selbst, was sie machen möchten. Das kann Sport sein, gemeinsam etwas essen gehen, Musik machen - alles, was ihnen Spaß macht. Für sie ist es schön, ihre Freizeit selbst zu gestalten, und die Angehörigen sind dadurch im Alltag etwas entlastet.

A.G., Einzelfallhelfer.

Das Training macht Spaß. Am liebsten werfe ich Körbe.

Spieler

Das Training und die Vorbereitung auf die Spiele sind für unseren Sohn eine große Unterstützung. Er lernt sehr viel dabei. Zu seinen Spielen geht die ganze Familie gemeinsam, um ihn anzufeuern, machmal kommen auch seine Freunde mit. Durch das Training sind über die Jahre viele Freundschaften entstanden, sowohl zwischen den Eltern als auch den Kindern

Elternteil

Arbeit und Sprache: Möglichkeiten der Teilhabe

Teilhabe am Arbeitsmarkt und Spracherwerb

Arbeiten in der Werkstatt für behinderte Menschen
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Auf dem Arbeitsmarkt ist die Auswahl an Jobs für Menschen mit Behinderung begrenzt, abhängig von der Art der Behinderung, ihr Zugang zum Arbeitsmarkt ist also eingeschränkt. Zudem ist für den regulären, den sogenannten ersten Arbeitsmarkt meist eine formale Qualifizierung notwendig. Eine Alternative zum ersten Arbeitsmarkt ist die sogenannte Werkstatt für behinderte Menschen. Jedoch bietet sie keinen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt, sonder ist ein Angebot zur Teilhabe am Arbeitsleben.

Arbeiten Menschen mit Behinderung in Ihrem (ehemaligen) Betrieb? Wäre es möglich, dass Menschen mit Behinderung in Ihrem Betrieb arbeiten?

Welche Möglichkeiten bietet die Werkstatt für behinderte Menschen?

In den Werkstätten arbeiten Menschen mit Behinderung beispielsweise in der Holz- und Metallwerkstatt, in der Küche oder Gärtnerei. Die dazu benötigten Tätigkeiten erlernen sie im Berufsbildungsbereich der Werkstatt. Nach der Ausbildung im Berufsbildungsbereich können sie auf den ersten Arbeitsmarkt wechseln oder in der Werkstatt bleiben. Viele Werkstätten haben einen Förderbereich, der sich an Menschen mit individuellem Förderbedarf richtet, die dort in kleinen Gruppen gefördert werden. Erwirbt ein Mitglied der Fördergruppe im Laufe der Zeit die Fähigkeiten, die für die Werkstatt vorausgesetzt werden, kann die Person dorthin wechseln, ansonsten bleibt sie in der Fördergruppe.

Das Konzept der Werkstätten ist umstritten, unter anderem wegen der Bezahlung und der Zahl derjenigen, die nach der Ausbildung tatsächlich auf den ersten Arbeitsmarkt wechseln. Die Meinung reichen von "ganz abschaffen" bis hin zu "notwendiger Schutzraum"

Kaum Angebote zum Spracherwerb für geflüchtete Menschen mit Behinderung

Abhängig vom Herkunftsland, dem Zeitpunkt der Einreise und der gesetzlichen Einordnung des Aufenthalts gibt es für geflüchtete Menschen ohne Behinderung mehrere Angebote für die Integration in den Arbeitsmarkt, beispielsweise Kurse zum Erwerb der deutschen Sprache und zur Vorbereitung auf die Ausbildung. An den Angeboten zum Spracherwerb könnten Menschen mit körperlicher Behinderung teilnehmen. Allerdings benötigen die meisten von ihnen dafür einen barriefreien Zugang zum Haus und zum Unterricht. Oftmals aber gelangen Menschen, die einen Rollstuhl nutzen, gar nicht erst zum Eingang und für Menschen mit Hörbeeinträchtigung gibt es keine Übersetzung in Gebärdensprache.

Für geflüchtete Menschen mit Lernschwierigkeiten gibt es kaum Sprachkurse, in denen sie Deutsch lernen können. Dadurch werden sie rechtlich häufig als nicht werkstattsfähig eingestuft - trotz ihrer Fähigkeiten. Sie kommen dann in eine Fördergruppe, von der eine Wechsel in die Werkstatt oder auf den ersten Arbeitsmarkt nur schwer möglich ist. Das fehlende Bildungsangebot aber hemmt ihr Entwicklungspotenzial, und auch ihre Möglichkeit zur Teilhabe wird dadurch blockiert.

Auch für pflegende Angehörige ist es oftmals unmöglich, an einem regulären Kursangebot teilzunehmen. Sie benötigen beispielsweise flexiblere Kurs- und Prüfungsanforderungen und ein Betreuungsangebot für die Zeit ihrer Abwesenheit. In Deutschland gibt es zwar vereinzelt Modellprojekte für Sprachkurse, die lokal versuchen, die Lücke zu füllen und vielfältige Angebote anzubieten. Doch häufig sind diese zeitlich begrenzt und können nicht allen Interessierten einen Platz anbieten. Lange Wartezeiten für die Menschen, die die Teilhabe einschränken oder verhindern, sind die Folge.

Mit der Arbeit in der Werkstatt erfüllt sich ein großer Traum von uns. Wir freuen uns, dass Nour seine Zukunft selbst gestalten kann.

Susan K. ist mir ihrer Familie aus Syrien geflohen. Ihr Sohn Nour hat eine Lernbeeinträchtigung.

Mein Sohn besucht momentan noch die Fördergruppe einer Werkstatt für behinderte Menschne. In Zukunft möchte er aber in den Berufsbildungsbereich der Werkstatt wechseln. Er geht gerne zur Arbeit, er mag die Menschen dort, und er ist sehr beliebt bei Kolleg*innen wie Kollegen und der Leitung.

Vater von Ayham, die Familie ist aus Syrien geflohen. Ayham hat Trisomie 21.